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"Ich habe mein Leben lang darauf hintrainiert!"

Geht es introvertierten Menschen im Lockdown wirklich besser als extrovertierten?


Im letzten Jahr habe ich es oft gehört.

Introvertierten soll es psychisch besser gehen als Extrovertierten – immerhin brauchen introvertierte Menschen schon von Natur aus weniger sozialen Kontakt, gell? Und da würde es Sinn machen, dass die Einschränkungen während der Pandemie gerade diesen Menschen weniger ausmachen, als solchen, die ständig andere Leute um sich herum brauchen, um Energie tanken zu können.


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Die Psychologie beschreibt Extraversion-Introversion als eine fundamentale Persönlichkeitsachse, die Menschen unterscheidet.


Extrovertierte Menschen kommen in einem sehr aktiven Umfeld gut zurecht und laden ihre Energie bei der Interaktion mit anderen Menschen wieder auf. Sie verlieren Energie eher dann, wenn sie konstant alleine sind.


Introvertierte hingegen konzentrieren sich stark auf ihr Innenleben und finden sich eher in der Rolle der passiven TeilnehmerInnen in sozialen Gruppen wieder. Sie sind gerne alleine und brauchen oft, nach sozialen Interaktionen, Zeit für sich, um ihre Energie wieder aufzuladen.


Es scheint also logisch, dass sich introvertierte Menschen im Lockdown leichter tun - Einzelberichte scheinen diese Konklusion auch zu bestätigen.



Allerdings sagen nun neue psychologische Studien etwas ganz anderes.

Das ist überraschend, und die Hintergründe schauen wir uns jetzt genauer an.


Der Umgang mit dem Lockdown


Extraversion ist in der psychologischen Forschung mit erhöhtem mentalem Wohlbefinden, erhöhtem Glücklichsein und besserer psychischer Gesundheit assoziiert.

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Trotz der sozialen Isolation, der wir während der Pandemie ausgesetzt sind – etwas, das Introvertierten eigentlich mehr liegen sollte – suggerieren Studien, dass sich das mentale Wohlbefinden von Extrovertierten während der Lockdowns erstaunlich stabil gehalten hat.


Eine Studie von Maryann Wei (University of Wollongong, Australien), die sich genau mit diesem Thema befasst hat, fand, dass Introversion ein Prädiktor für erhöhte Einsamkeit, erhöhte Ängste und einem erhöhten Grad an Depressionen während des Lockdowns war.

Im Gegensatz dazu korrelierte Extraversion mit einem geringeren Grad an Angst und einer geringeren Wahrscheinlichkeit, während des Lockdowns an psychischen Problemen zu leiden.


Soll heißen, introvertierte Menschen litten am Lockdown mehr als extrovertierte.


Diese Forschungsergebnisse wurden auch durch weitere Studien bekräftigt, die sich vor allem den Verlauf psychischer Gesundheit während des ersten Pandemiejahres angeschaut haben – longitudinale Studien also.


Ganz zu Beginn der Pandemie waren extrovertierte Menschen gestresster. Sie hatten Angst davor, ihre sozialen Bedürfnisse nicht mehr ausleben zu können und dass ihre psychische Gesundheit massiv unter den Einschränkungen leiden würde. Im Laufe der ersten Lockdowns berichteten dann jedoch introvertierte StudienteilnehmerInnen von einem Stressanstieg, während Extrovertierte von einer Stressreduktion sprachen.


Eine andere Studie fand interessanterweise auch heraus, dass es bei der generellen Laune genau anders herum war. Extrovertierte StudentInnen empfanden sich als signifikant weniger gut gelaunt als noch vor der Pandemie. Introvertierte hingegen berichteten von keinem signifikanten Abfall ihrer guten Laune.


Verwirrend und unlogisch… oder doch nicht?


Die Gründe für diese Erkenntnisse sind im Moment noch spekulativ. Ein Faktor aber könnte durchaus die sehr unterschiedlichen Lebensgewohnheiten der beiden Gruppen sein.





Extrovertierte auf der einen Seite lernten oft schnell die Vorzüge von Kommunikations-Apps wie Zoom, Houseparty, etc. kennen, und nutzten diese auch vermehrt für die Kontaktaufnahme, vor allem auch dann, wenn sie alleine lebten.




Auf der anderen Seite standen Introvertierte, die plötzlich mit MitbewohnerInnen und Familienmitgliedern eingesperrt waren und dadurch ihre oft so wichtige, selbstgewählte Isolation nicht ausleben konnten.



Aber kann es wirklich so einfach sein? Ein bisschen mehr chatten und zoomen und Extrovertierten geht es gleich besser? Ein bisschen raus gehen und alleine sein und Introvertierte können gesund in den Tag starten?


Nein, obwohl diese Dinge natürlich helfen können.


Extraversion – ein Blick in die Tiefe


Schaut man sich an, was wir eigentlich so über Extraversion wissen, stellt sich recht bald heraus, dass die oberen Studienergebnisse gar nicht so abwegig sind, wie sie auf den ersten Blick vielleicht erscheinen.


Extrovertierte Menschen können mit Veränderungen in ihrem Umfeld und ihrer Lebenssituation generell besser umgehen als introvertierte.



Es gibt viele Theorien, die darauf abzielen, genau das zu erklären. Manche gehen davon aus, dass Extrovertierte ja einen größeren Kreis an sozialen Beziehungen haben, und dadurch mehr Unterstützung erhalten. Andere meinen, dass es an der signifikanten Korrelation zwischen Extraversion und gesunden Aktivitäten liegt.


Eine besonders relevante Studie von Anthony Volk et al. schaute sich den Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen, unter anderem auch Extraversion, in der Handhabung von Corona-Erlebnissen in jungen Erwachsenen genauer an und fand, dass Extrovertierte in Krisenzeiten schneller dazu bereit sind, lösungsorientierte Strategien anzuwenden. Zum Beispiel suchten sie aktiv nach emotionaler Unterstützung, wenn sie begannen, sich nicht gut zu fühlen.


Zusätzlich muss man hier auch anmerken, dass Extraversion mit erhöhtem Optimismus in Verbindung gebracht wird, was sicher auch seinen Teil dazu beigetragen hat, dass Extrovertierte, statistisch gesehen, die Krise bisher besser überstanden haben.


Als introvertierter Mensch ist also alles bäh?


Nein, auch nicht. Obwohl es stimmt, dass bisher viele Studien in der psychologischen Forschung gezeigt haben, dass Extraversion im Zusammenhang mit positiver psychischer Gesundheit steht, ist die Persönlichkeit des Menschen unheimlich komplex und facettenreich. Nur weil man also introvertiert ist, heißt das nicht gleich, dass man immer weniger gut dasteht.



Eine der wichtigsten Persönlichkeitstheorien in der Psychologie ist das „Fünf-Faktoren-Modell“. Darin inkludiert ist nicht nur das Extraversion-Introversion Spektrum, sondern auch vier weitere Persönlichkeitsmerkmale: Die Offenheit für Erfahrungen (Aufgeschlossenheit), Gewissenhaftigkeit (Perfektionismus), Verträglichkeit (Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft, Empathie) und Neurotizismus (emotionale Labilität und Verletzlichkeit).



Nicht nur das Extraversion-Introversion Spektrum determiniert, wie wir auf die Pandemie reagieren, sondern auch diese anderen Faktoren!


Obwohl Extraversion oft mit gesunden Aktivitäten assoziiert wird, ist es die Gewissenhaftigkeit, die gesunde Lebensweisen vorhersagt. Und obwohl extrovertierte Menschen meistens einen größeren Freundeskreis haben, ist es die Verträglichkeit, die schlussendlich vorhersagt, wie qualitativ hochwertig diese Beziehungen sind.


Soll also heißen, dass das Extraversion-Introversion-Spektrum alleine zu wenig aussagekräftig ist, um es als einzige Messeinheit für den psychischen Umgang mit der Pandemie herzunehmen. Wichtiger ist die Kombination von oben genannten Faktoren einer gegebenen Persönlichkeit.



Abseits der Persönlichkeit


Nicht nur die Persönlichkeit bestimmt, wie es uns im Moment geht. Auch andere Faktoren, unsere Werte und Bedürfnisse, unsere demographische Lebenssituation und unsere Lebensvorstellungen haben einen großen Einfluss auf unser psychisches Wohlbefinden.


Auch jemand, der sehr extrovertiert und gewissenhaft ist – also eigentlich bestens dafür ausgestattet wäre, die Pandemie gut zu überstehen – kann durch die eigenen inneren Werte negativ beeinflusst werden.


Was will ich damit sagen? Nehmen wir zum Beispiel jemanden her, der sehr materialistisch ist. Während der Pandemie ist es möglich, dass diese Person beginnt, als Bewältigungsstrategie, zwanghaft online einzukaufen.


Solche inneren Motivationsfaktoren steuern unser Verhalten und psychisches Befinden genauso sehr wie unsere Persönlichkeit. Unser psychisches Wohlbefinden wird also dadurch bestimmt, wie all diese Faktoren miteinander interagieren.


Das ist alles sehr spannend, kann aber auch verwirrend sein. Die eigene Persönlichkeit genauer kennenzulernen, hilft, Gewohnheiten zu verändern, neue Motivatoren zu entdecken und gesunde Bewältigungsstrategien zu entwickeln.


Dazu können Sie gerne ein Beratungsgespräch mit mir ausmachen – ich helfe Ihnen dabei, Ihre Persönlichkeit besser zu verstehen, damit Sie gut durch die momentane Krise kommen.

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