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Reden ist silber, schweigen ist gold?

Vom strafenden Anschweigen und den Konsequenzen


Als Menschen sind wir kommunikative Wesen. Sprache ist eine unserer größten Errungenschaften. Nur dadurch, dass wir miteinander kommunizieren können; unsere Wünsche, Sorgen und Ängste ausdrücken und vom Gegenüber (oft) verstanden werden können, schaffen wir es, Gesell- und Gemeinschaften aufzubauen.

In der systemischen Theorie lernen wir, dass Kommunikation nicht geradlinig ist. JedeR von uns sieht die Welt anders, ist geprägt von persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen und interpretiert alles Gesagte dementsprechend auch anders. Dass wir es dennoch schaffen zu kommunizieren, grenzt fast schon an ein Wunder.


Was aber, wenn die verbale Kommunikation stoppt? Wenn wir uns in einer Situation befinden in der alles, was wir sagen, sowieso vom Gegenüber „falsch“ aufgefasst und uminterpretiert wird? Wenn wir verbal ausschlagen, weil wir uns selbst angegriffen fühlen, und wir realisieren, dass auch das nichts bringt? Wenn wir zu Schweigen anfangen.


Photo by christopher lemercier on Unsplash

Wer kennt das nicht? Nach einem Streit wird sich erst einmal angeschwiegen. Beide Beteiligten sind verletzt und nicht bereit, auf den/die AndereN zuzugehen. Beide sehen sich im Recht, oder sind zumindest davon überzeugt, dass der/die Andere sich zuerst entschuldigen sollte.

Oder aber es schweigt nur eine der zwei beteiligten Personen. Die andere möchte den Konflikt vielleicht lösen, wird jedoch komplett ignoriert und ausgegrenzt.


Photo by Raamin ka on Unsplash

Kommunikation verlagert sich auf die non-verbale Ebene, denn auch unsere Körpersprache kann schreien. „Wenn Blicke töten könnten...“, wie es umgangssprachlich so schön heißt.

Wir hören also niemals auf zu kommunizieren (außer wenn wir schlafen vielleicht, und auch da plaudere ich zumindest munter vor mich hin).


Wenn es die streitenden Personen schaffen, dieses Anschweigen nur kurz dazu zu nutzen, um sich zu sammeln und die erste Wut verflüchtigen zu lassen, dann kann das durchaus hilfreich sein. Wichtig ist dabei, dass sie sich nachher zusammensetzen, um wirklich noch einmal über den Konflikt zu reden, ihn dadurch vielleicht auf rationaler Ebene besser lösen können.



Was aber, wenn das Anschweigen andauert? Wenn es als tatsächliche Strafe genutzt wird?


Jemandem die kalte Schulter zu zeigen, kann sich auf den ersten Blick als „High Road“ präsentieren, als würdevoller Umgang mit einem andauernden Konflikt – „Ich schweige lieber, als dass ich etwas sage, was ich vielleicht bereue.

In Wahrheit aber haben ForscherInnen herausgefunden, dass, während des „angeschwiegen werdens“, die gleichen Hirnrezeptoren aktiviert werden, die auch bei physischen Schmerzen anspringen.


Kipling Williams forscht seit fast 40 Jahren genau zu diesem Thema – zur Ausgrenzung durch Schweigen:

„Das Ausschließen und Ignorieren von Menschen, wie z. B. die kalte Schulter zeigen oder sie anzuschweigen, werden verwendet, um zu bestrafen oder zu manipulieren, und die beteiligten Personen erkennen den emotionalen oder physischen Schaden, der angerichtet wird, möglicherweise nicht.“

Photo by Mitchell Hollander on Unsplash

Das Anschweigen hat viele Namen: meiden, missachten, ächten, soziale Isolation, stonewalling, ghosting, silent treatment.

Obwohl PsychologInnen für jeden Begriff nuancierte Definitionen haben, sind sie alle im Wesentlichen Formen der Ausgrenzung.




Und die Taktik ist nichts Neues. Die alten Griechen zum Beispiel vertrieben BürgerInnen, die als Bedrohung für die Demokratie galten, für 10 lange Jahre und Wikinger verbannten solche, die nicht in ihr Weltbild passten, komplett. So gut wie alle Religionen haben Menschen über Jahrhunderte hinweg aus ihren Glaubensgemeinschaften ausgeschlossen: KatholikInnen nennen es Exkommunikation, die evangelische Kirche Ausschluss, und das Judentum Herem. Die Scientology-Kirche, MormonInnen und ZeugInnen Jehovas empfehlen die totale „Trennung“ von jedem, der als GegnerIn der Religion angesehen wird.


Wenn KlientInnen zu mir kommen, die aus den verschiedensten Gründen von Familie, FreundInnen oder KollegInnen ausgegrenzt werden, haben sie eines gemeinsam; es tut ihnen weh.


Anschweigen verursacht langanhaltende Folgen


Schrodt, Witt und Shimkowski, analysierten 74 wissenschaftliche Studien über Beziehungen und Interaktionen mit mehr als 14.000 Teilnehmern.

Die Ergebnisse ihrer eingehenden Analyse zeigten, dass das Anschweigen (bzw. the silent treatment) einer Beziehung „enorm“ schadet. Es verringert die Beziehungszufriedenheit für beide PartnerInnen, das Gefühl der Intimität und auch die Fähigkeit, auf gesunde und bedeutungsvolle Weise miteinander zu kommunizieren.


Photo by Sasha Freemind on Unsplash

In besonders schweren Fällen kann Ausgrenzung einen hohen Tribut fordern, wodurch die Opfer ängstlich, zurückgezogen, depressiv oder sogar selbstmordgefährdet werden.


Da wir Menschen für unsere psychische Gesundheit sozialen Kontakt brauchen, kann eine Isolation schwerwiegende Folgen haben. Kurzfristig gesehen verursacht Ausgrenzung einen inneren Stress. Langfristig gesehen kann dieser Stress sogar als Missbrauch angesehen werden.



Obwohl einE TäterIn das Anschweigen in vielen verschiedenen Szenarien anwenden kann, haben alle Szenarien laut Williams eines gemeinsam:

„Menschen verwenden es, weil sie damit durchkommen können, ohne auf Aussenstehende beleidigend zu wirken und weil es hochgradig effektiv ist, um der betroffenen Person ein schlechtes Gewissen zu machen.“

Schlechtes Gewissen? Ist ja nicht so schlimm, oder?


Doch. Das Anschweigen ist eine besonders heimtückische Form des Missbrauchs, da sie das Opfer dazu zwingen könnte, sich mit dem Täter / der Täterin zu versöhnen, um das Verhalten zu beenden, auch wenn das Opfer nicht weiß, warum es sich eigentlich entschuldigt.


In diesem Kontext von TäterInnen und Opfern zu sprechen klingt etwas hart, ich weiß. Wenn jedoch eine Person einer anderen Person Schaden zugefügt, ist das eine Tat. Keine Straftat, aber eine Tat.


Photo by Dev Asangbam on Unsplash

Das Anschweigen kann sowohl dazu verwendet werden, um Konflikte und Konfrontationen zu vermeiden, oder auch um zu bestrafen oder zu kontrollieren. Manche Leute entscheiden sich vielleicht gar nicht bewusst dafür.


Ungeachtet des dahinterliegenden Grundes ruft soziale Ablehnung (in einer Paarbeziehung oder in einem größeren Kontext) eine ähnliche Reaktion hervor, wie bei Opfern von physischem Missbrauch; der vordere „Gyrus Cinguli“ (oder die Gürtelwindung) im limbischen System des Gehirns – der Bereich, von dem angenommen wird, dass er Emotionen und Schmerzen interpretiert – ist in beiden Fällen aktiv.

Ausschluss und Zurückweisung tun also buchstäblich weh.




Letztendlich schadet das Anschweigen auch dem/der VerursacherIn.


Menschen sind dazu veranlagt, soziale Signale zu erwidern. Es widerspricht unserer Natur, jemanden zu ignorieren. Der/die TäterIn ist daher gezwungen, sein/ihr Verhalten zu rechtfertigen, um es weiterhin tun zu können; Sie merken sich alle Gründe, warum sie jemanden ignorieren.

„Am Ende lebt man in einem ständigen Zustand von Wut und Negativität“ - Williams

Und noch schlimmer; dieses Verhalten kann süchtig machen. Und wie bei jedem Suchtmittel, kann man sich in einem wahren Teufelskreis wiederfinden.


Was ist also die Lösung? Wie kommt man da wieder raus?


  1. Sich nach oder inmitten eines hitzigen Streits abzukühlen, ist natürlich in Ordnung. Hier ist es wichtig, die Zeitdauer der Pause festzulegen, also dass beide Parteien wissen, wann der Streit, oder hoffentlich ein rationaleres Gespräch, wieder aufgenommen wird.

  2. Aussprechen, dass das Angeschwiegen werden weh tut. Wenn die Beziehung miteinander eigentlich gut ist, kann diese Ehrlichkeit eine Veränderung beim Gegenüber hervorrufen.

  3. Entschuldigen. Sowohl das Opfer, wenn es tatsächliches etwas Verletzendes gesagt/getan hat, als auch der/die TäterIn des Anschweigens.

  4. Wenn es sich um ein immer wiederkehrendes Verhalten einer Person handelt, dann kann eine Paarberatung helfen, beiden Parteien Gehör zu verschaffen.


Bitte Achtung: Weigert sich der/die TäterIn über längere Zeit hinweg, die Existenz oder die Gefühle des Opfers anzuerkennen, ist es natürlich absolut in Ordnung, die Beziehung zu beenden.



Photo by Toa Heftiba on Unsplash

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